Positionspapier
Bezahlbarer Wohnraum für Alleinerziehende – eine politische Strategie ist dringend notwendig!
Während sich die Wohnungsmarktkrise verschärft und etliche Zivilgesellschaftliche Initiativen und Wissenschaftler:innen seit Jahren auf die hierdurch hervorgerufene gesellschaftliche Schieflage aufmerksam machen, streichen Wohnungsunternehmen trotz Pandemie und Mietendeckel Gewinne in Milliardenhöhe ein (Stierle, 2021).
Berlin ist eine beliebte und stark wachsende Metropole mit derzeit 3,7 Mio. Einwohner:innen. Im Zeitraum von 2011 bis 2016 ist Berlin um rund 245.000 Menschen gewachsen. Das entspricht der kompletten Bevölkerung einer Großstadt wie Kiel. Seitdem nimmt die Bevölkerung weiter jährlich um die Größenordnung einer Mittelstadt zu. (Senatsverwaltung Stadtentwicklung und Wohnen 2019). Zwischen 2006 und 2016 ist in Berlin die Zahl der Kinder unter 6 Jahren um 31 % gestiegen (Berliner Familienbericht 2020). Berlin ist die Hauptstadt der Alleinerziehenden. Knapp ein Drittel aller Familien hier sind Alleinerziehendenfamilien (28 %) (Statistisches Bundesamt 2018).
Der Ausbau der Infrastruktur mit bezahlbaren Wohnungen und familienfreundlicher (Wohn-)Infrastruktur[1] wächst langsamer als die Bevölkerung. Eine angemessene (politische) Zukunftsplanung und Lösung dieses Dilemmas ist nicht in Sicht, obgleich die Prognosen und Zahlen bekannt sind. Der im Jahr 2019 beschlossene „Stadtentwicklungsplan Wohnen“ geht davon aus, dass in Berlin bis zum Jahr 2030 rund 194.000 Wohnungen benötigt werden, um die wachsende Zahl der Einwohner:innen zu versorgen.
Steigende Mieten, kaum bezahlbarer Wohnraum, beengte Wohnverhältnisse, hohe Mietbelastungsquoten, Diskriminierungserfahrungen bei der Wohnungssuche oder familienfeindliche Wohninfrastruktur. Das sind die Folgen, mit denen sich längst nicht mehr nur von Armut Betroffene oder Geringverdienende konfrontiert sehen.
Auch und insbesondere Alleinerziehende sind stark betroffen von der Wohnungsmarktkrise. Alleinerziehende sind überdurchschnittlich oft von Armut betroffen (Hübgen, 2020, 97), tragen eine im Vergleich zur Gesamtbevölkerung dreifach erhöhte Armutsrisikoquote (Gleichstellungsbericht BMFSFJ 2018, 89) und haben ein um ein Fünftel geringeres
Pro-Kopf-Einkommen, als Zweielternfamilien (Statistisches Bundesamt 2018, 39). Mehr als jede:r vierte Alleinerziehende in Berlin galt im Jahr 2012 als relativ arm (Berliner Beirat für Familienfragen 2015, 224).
Trifft diese strukturelle Benachteiligung auf den Berliner Wohnungsmarkt, bedeutet das, dass die Folgen der Wohnungsmarktkrise Alleinerziehende umso härter und direkter treffen:
Alleinerziehende gelten als die von der aktuellen Wohnungsmarktkrise mit am stärksten betroffene Personengruppe:
Sie leben überdurchschnittlich oft in beengten Wohnverhältnissen (SenSW 2019), können sich selbst mit einem mittleren Einkommen keine Wohnungen mehr innerhalb des S-Bahnrings leisten (Mietenwatch 2019), leben mit der Sorge ihre Wohnungen zu verlieren und keine neue mehr zu finden (VAMV 2020) und werden überdurchschnittlich oft aus ihren Sozialräumen verdrängt (Beran/Nuissl 2019).
Kommen weitere Diskriminierungsebenen, wie Rassismus oder Ableismus hinzu, bedeutet das, dass eine Wohnung zu finden, fast aussichtslos ist.
Dem Alleinerziehenden-Status ist in vielen Fällen eine Trennung oder Scheidung vorangegangen, was oftmals einen kurzfristigen Umzug notwendig macht. Hier ist es wichtig, gewachsene sozialräumlichen Strukturen nicht verlassen zu müssen, also eine Wohnung in der alten Nachbar:innenschaft zu finden. Hier spielt es vor allem eine Rolle, die Kinder nicht dem gewohnten sozialen Umfeld zu entreißen, aber die gewachsenen Netzwerke sind auch von Bedeutung, wenn es darum geht Betreuungsengpässe abzudecken (Oschmiansky/Popp 2019).
Im Vergleich tragen Alleinerziehende die höchste Mietbelastungsquote. Die deutlich höchste tragen Alleinerziehende in Großstädten und Alleinerziehende mit einem geringen Einkommen: sie geben knapp die Hälfte ihres Einkommens für die Miete aus (Tobsch 2019). Diese Zahlen spiegeln sich auch in den Ergebnissen einer Umfrage des VAMV LV Berlin e.V (2020) wieder: Insgesamt 82,5 % der Befragten geben demnach zwischen 30 % und über 50 % ihres Nettoeinkommens für Wohnraum aus.
Das sind alarmierende Zahlen: Eine Mietbelastungsquote von über 30 % des Haushaltsnettoeinkommens wird von Sozialwissenschaftler:innen und Immobilienexpert:innen als problematisch gesehen, da nach Zahlung der Miete zu wenig finanzielle Mittel verbleiben, um die Lebenserhaltungskosten zu bestreiten. Auch Vermieter:innen setzen in der Regel die Grenze bei 30 % und vermieten ihre Wohnungen nicht an Menschen, deren Einkommen nicht das Dreifache der Miete übersteigt (Hans-Böckler-Stiftung 2017).
Eine der Folgen der Wohnungsmarktlage ist, dass Frauen in gewaltbelasteten Beziehungen oder Abhängigkeitsverhältnissen verbleiben, weil sie keine Aussicht auf einen bezahlbaren Wohnraum haben (Sellach/Enders -Dragässer, 2000).
Der VAMV Landesverband Berlin e.V. schließt sich den Forderungen des Volksbegehrens Deutsche Wohnen und Co. Enteignen und der Kampagne „Mietenstopp! Denn dein Zuhause steht auf dem Spiel“ des deutschen Gewerkschaftsbundes an.
Wir fordern von der Berliner Landesregierung und der Bundesregierung konkrete kurzfristige und dauerhafte Lösungen zur Behebung der Wohnungsmarktkrise und den Zugang zu angemessenem Wohnraum für Alleinerziehende und ihre Kinder[2].
Es braucht eine Politik, die die genannten Probleme ernst nimmt, angeht und löst:
- Lösungen, die konkret die Not Alleinerziehender auf dem Wohnungsmarkt im Blick haben: ein spezieller WBS für Alleinerziehende oder ein öffentlich gefördertes Wohnkontingent, dass Alleinerziehenden vorbehalten ist
- Die Entwicklung von alleinerziehendengerechten Wohnkonzepten (Wohnprojekte für Alleinerziehende mit gemeinschaftlich nutzbaren, halböffentlichen Räumen, nutzbares Wohnumfeld mit geschützten Spielflächen in Ruf- und Sichtweite, ein Individualraum pro Person)
- Berlin braucht mehr neuen Wohnraum und eine längerfristige Wohnungsbaustrategie
- Für veränderte Lebenssituationen sind flexible Wohnlösungen notwendig, um bedarfsgerechte Wohnungen vorhalten zu können. Bei Neubauvorhaben sollten die Bedarfe von Einelternfamilien berücksichtigt werden.
- Es sollten Anreize für den Wohnungstausch geschaffen werden – der Quadratmeterpreis muss bei Wohnungswechsel innerhalb derselben Vermietung erhalten bleiben
- Konsequentere Maßnahmen für bezahlbare Mieten sind notwendig.
- Nach dem Scheitern des Mietendeckels auf Landesebene, muss dieser auf Bundesebene in Angriff genommen werden. Die Berliner Mieter:innen, die nun durch Nachzahlungsforderungen von Verschuldung oder Wohnungsverlust bedroht sind, müssen durch einen Notfallfonds unterstützt werden.
- Die notwendigen Infrastrukturen müssen gleichermaßen mit dem Wachstum der Bevölkerung ausgebaut werden
- Die soziale Mischung in den Bezirken muss erhalten bleiben
Kinder sind das gesellschaftliche Fundament unserer Zukunft. Alleinerziehende sind systemrelevant. Die Mietbelastungsquote darf nicht so hoch sein, dass nach Zahlung der Miete keine gesellschaftliche Teilhabe mehr möglich ist. Deshalb sollten alle Familienformen bezahlbaren Wohnraum und eine gute Infrastruktur in Berlin finden können. Wohnen ist ein Menschenrecht und die Zahlung der Miete darf Familien nicht in die Armut treiben!
Gerne stehen wir beratend und als Inputgeberinnen zur Verfügung.
VAMV-Landesverband Berlin e.V.
21.05.2021
[1]Grünflächen und Spielplätze, standortnahe Einkaufsmöglichkeiten, gute Anbindung an den öffentlichen Personennahverkehr, wohnraumnahe Schulen, sichere Radwege, verkehrsberuhigte bzw. autofreie Zonen/Spielstraßen und ausreichend Kitaplätze/ Kindertagespflegestellen
[2]Aus der Koalitionsvereinbarung SPD, LINKE, Grüne 2016-2021: „Die Koalition wird dafür Sorge tragen, dass Alleinerziehenden der Zugang zum Wohnungsmarkt geöffnet wird, und bezahlbaren Wohnraum für Familien schaffen.“